Was die Bundestagswahl mit Erinnerungskultur zu tun hat, besprechen wir in den nächsten Tagen im Podcast ERINNERUNGSFUTUR, u.a. mit Kelly Laubinger, Tobias Herzberg, Marieke Reimann, Ibou Diop, Noa Ha und vielen weiteren Mitgliedern der CPPD – hört rein, es geht um die Zukunft unserer pluralen Demokratie!
Diese Gespräche sind erschienen:
Im Gespräch mit Kelly Laubinger, Geschäftsführerin der Sinti Union Schleswig-Holstein, spricht über (historische) Verantwortungen, gesellschaftliche Dissonanzen und Widerstand auf lokalpolitischer Ebene. Als Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden und -Ermordeten teilt sie ihre persönliche Geschichte – ein bewusster Widerstandakt, um zu verdeutlichen: In der Vergangenheit wurden und aktuell werden politisch Grenzen überschritten. Das Erinnern im Bundestag gleicht einer Performance. Gedenktage werden begangen und im Anschluss wird über Abschiebungen diskutiert. Die Diskrepanz könnte nicht größer sein: Auf der einen Seite mobilisieren sich zivilgesellschaftliche Kräfte, die sich mit Erinnerungsarbeit befassen. Auf der anderen Seite stehen geschichtsrevisionistische, politische Akteure die „gewaltsam einen Deckel über die Erinnerung zu legen“ bezwecken.
Braucht es den Verweis auf Geschichte, um gegen eine Partei wie die Alternative für Deutschland vorzugehen? Im Gespräch wird deutlich: Neben der kollektiven Ebene ist es ebenfalls notwendig, bei der eigenen Familiengeschichte und internalisierten Rassismen anzusetzen. Dabei geht es um das Anerkennen eigener Privilegien und historischer Verantwortung. Ungeachtet des Wahlausganges ist Laubingers zivilgesellschaftliche Haltung klar ausformuliert: „Wenn unsere Vorfahren es ausgehalten haben, bleiben auch wir sichtbar. Wir machen keinen Platz“.
Das Gespräch wurde am 10.2.2025 aufgenommen.
Weiterführende Links: https://www.instagram.com/sintiunionsh/?hl=en
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Im Gespräch mit Tobias Herzberg, Mitglied der Leitungsgruppe am Schauspielhaus Wien, wird deutlich: Für die Arbeit an einer offenen Gesellschaft, die sich gegen rechte und rechtsradikale politische Einstellungen positioniert, ist Erinnerungskultur unabdingbar. Das unterstreicht auch ein komparativer Blick in die Gegenwart: Überall dort, wo sich etablierte konservative Parteien rechten Forderungen annähern oder diese übernehmen, verfestigt sich die rechte Parteienlandschaft. Gleichzeitig schwächt sich die konservative Mitte selbst.
Dieser Trend ließ sich vor Kurzem im deutschen Bundestag beobachten. Symptomatisch wurden in der sogenannten Migrationsdebatte Fragen um innere Sicherheit und Wohlstand verhandelt. Darüber hinausgehende zentrale politische Probleme blieben und bleiben aus wahlkampftaktischen Gründen unerwähnt.
Die Arbeit an einer offenen Gesellschaft, in der Kunst und Kultur eine wichtige Rolle spielen, kann auf diese Formen politischer Engführung aufmerksam machen. Herzberg geht im Gespräch auf die Chancen eines innergesellschaftlichen Bewusstseinswandels ein, für den es noch nicht zu spät ist. Zur Diskussion stehen dabei zentrale Fragen: Wie kann vermittelt werden, dass alle in Deutschland und Europa lebenden Menschen von der Arbeit an einer offenen Gesellschaft profitieren? Wie kann die Arbeit an einer Pluralen Erinnerungskultur von einer gesellschaftlichen Mehrheit in erster Linie als förderlich und nicht als Bedrohung wahrgenommen werden?
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Im Gespräch mit Ibou Coulibaly Diop, Literaturwissenschaftler, Kurator und Dozent, spricht über die anhaltende Verweigerung Deutschlands, sich mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen. Deutschland ist noch immer nicht bereit, aus der Geschichte zu lernen. Laut Diop „hat die Politik uns nie ernst genommen“- stattdessen nimmt sie die Perspektive einer reichen weißen Mehrheitsgesellschaft an. „Schwarze Menschen werden nicht als Teil der Gesellschaft gesehen, sondern als Gäste“, so Diop. Rassistisch geführte Diskussionen über Migration werden dabei auch von Parteien übernommen, die sich in der Mitte der Gesellschaft verorten.
Die Erinnerungskultur im Bundestag unterscheidet sich erheblich von derjenigen, die in der Zivilgesellschaft erarbeitet wurde. In der Politik steht bei Erinnerungsarbeit nicht die Menschlichkeit im Vordergrund, stattdessen wird sie als Aufgabe betrachtet, die erledigt werden muss. So kann die Wirkkraft der Entmenschlichung, die die Grundlage der deutschen Kolonialgeschichte bildet, weiterhin zerstörerische Auswirkungen haben.
Der „rechte Backlash“ ist ein langwieriger Prozess. Was bedeutet es für eine plurale Gesellschaft, wenn ein großer Teil diese Pluralität als Bedrohung statt als Realität begreift? Und wie kann Erinnerungskultur dem „rechten Backlash“ resilient und widerständig begegnen? Diop schöpft Hoffnung nicht aus der Politik, sondern aus Community-Räumen, die sich regional und transnational mit Erinnerungskultur auseinandersetzen. Resilienz hat er in den letzten Jahren gelernt; Widerstand bedeutet für ihn, in dieser Zeit noch stärker füreinander einzustehen. „Wir werden weitermachen und wir werden weitermachen müssen. Alle müssen mit uns rechnen.“
Das Gespräch wurde am 14.02.2025 aufgenommen.
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Journalistin Marieke Reimann spricht darüber, wie Erinnerungskultur medial zugänglicher gestaltet werden kann. Die Rhetorik – das, was durch Worte und Wortbilder erzeugt wird – muss kontinuierlich hinterfragt werden. Zu oft übernehmen Medien rechtsextreme propagandistische Sprachbilder und normalisieren oder verstärken diese durch ihre Berichterstattung.
In diesem Jahr jährt sich das 75-jährige Bestehen des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Immer wieder stellt sich da die Frage: Wie können Journalist*innen dem komplexen Informationsanspruch gerecht werden – insbesondere im Kontext der Erinnerungskultur? Mediale Abbildungen erfordern transdisziplinäre Zusammenarbeit, um den Trugschluss zu entgehen, dass Rechtsextreme inhaltlich gestellt werden können. Stattdessen werden Fakten negiert und alternative Erzählungen, die ausschließlich der eigenen Sichtweise entsprechen, legen sich über Realitäten.
Eine weitere Herausforderung ist die überproportionale mediale Repräsentation der AfD-Wähler*innen. Eine gleichberechtigte Darstellung von Wählenden und Nicht-Wählenden gilt es anzustreben. Darüber hinaus fordert Reimann einen stärkeren zeitgeschichtlichen Fokus im Erinnern. Ostdeutsches Erinnern wird historisiert und wenig mit der Gegenwart verknüpft. Auch migrantische Erinnerungen aus verschiedenen Kontexten müssen stärker in den Diskurs einbezogen werden – ebenso wie die Perspektiven von Betroffenen politischer Entscheidungen.
Reimann betont, dass wir andere Perspektiven aushalten und in diskursiven Räumen besprechen müssen: „Es ist salonfähiger, miteinander zu schimpfen, als miteinander zu sprechen. Wir müssen unseren Weitblick erhalten.“
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Jonas Fegert leitet das House of Participation (HoP) und ist Senior Expert für den Themenbereich „Digital Democracy & Partcipation“ sowie Abteilungsleiter am Forschungszentrum Informatik (FZI).
Im Gespräch wird der rechte Backlash aus globaler Perspektive im Rahmen von Sozialen Medien und Erinnerungskultur thematisiert: Als virtuelle Räume, in denen sich Menschen Geschichten erzählen, finden in Sozialen Medien Selbstverständigungsprozesse über Gesellschaft und Strukturen unseres Zusammenlebens statt. Die Nähe zu Erinnerungskultur könnte nicht eindeutiger sein. Ein von seinen Grundprinzipien her demokratisch strukturierter, virtueller Raum ist jedoch dem Risiko ausgesetzt, durch politische oder wirtschaftliche Interessen instrumentalisiert zu werden. Hier können politisch rechte Einstellungen nicht nur reproduziert, sondern auch Wähler*innen gewonnen werden.
Auch die weitläufige Verbreitung von Bildern und Videos zählt gemeinsam mit negativen Emotionalisierungen zu wichtigen Bestandteilen, die die Aufmerksamkeit potenzieller Nutzer*innen steigern. Soziale Medien können so auch zu Plattformen avancieren, die bewusst Tabubrüche mit Erinnerungsnarrativen inszenieren. Hierzu zählt auch das Gespräch auf X zwischen Elon Musk und Alice Weidel im Januar 2025, bei dem Weidel geschichtsrevisionistische und antisemitische Äußerungen weltweit streute. Die Tatsache, dass diese öffentlichen Personen nicht von einem Ausschluss aus dem Diskurs bedroht sind, sondern ihre Stimmen vielmehr amplifiziert werden, ist eine kritische Entwicklung. Zudem bleiben in öffentlichen Debatten über diese und ähnliche Formate oft die Stimmen von und Auswirkungen für Betroffenengruppen unberücksichtigt.
Das Gespräch wurde am 17.02.2025 aufgenommen.
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Die wissenschaftliche Geschäftsführerin und Institutsleitung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, Noa K. Ha, kontextualisiert das Thema Migration und Asyl im Rahmen des aktuellen politischen Klimas.
Kurz vor den Bundestagswahlen fällt bei Debatten um Migration und Asyl auf, dass Erinnerungsdiskurse in diesen unerwähnt bleiben. Dabei prägten erinnerungspolitische, normative Anliegen das deutsche Asylrecht bis in die 90er hinein. Die heutige Problematisierung und Kriminalisierung von Migration und Asyl hingegen beschreibt den Versuch einer autoritären Politik, bestimmte Gruppen zu stärken und eine zutiefst gefährliche gesellschaftliche Spaltung zwischen einem imaginierten „Wir“ und den „Anderen“ voranzutreiben. Auch die Frage, ob Deutschland sich als Zu- oder Einwanderungsland versteht, steht in diesem Kontext. Während das Framing als Einwanderungsland zuletzt auf die Ermöglichung von Staatsbürgerschaftsrechten für alle Gruppen und ihre gesellschaftliche Teilhabe zielt, klammert der Begriff der Zuwanderung Fragen um Staatsbürgerschaft aus. Gleichzeitig findet vorrangig die vehemente Konzentration auf Flucht- und Migrationswege statt.
Die Anerkennung der gesellschaftlichen Pluralität, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten erkämpft wurde und sich zunehmend institutionalisiert hat, befindet sich aktuell auf einem Rückwärtstrend. Anteil nehmen daran auch Herausforderungen um Verteilungsgerechtigkeit.
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In dieser Folge von »Erinnerungsfutur« sprechen Gilda Sahebi und Jo Frank über den 19. Februar 2020 und den rassistisch motivierten Anschlag in Hanau sowie die aktuellen Herausforderungen der Erinnerungskultur in Deutschland im Kontext dieser Ereignisse. Sie gehen auf die politischen Entwicklungen ein, die mit rassistischen Narrativen und dem Aufstieg autoritärer Strukturen zusammenhängen. Gilda Sahebi kritisiert, dass das Gedenken an Gewalt und Rassismus in Deutschland oft auf symbolische Gesten beschränkt bleibt, ohne wirkliche Konsequenzen nach sich zu ziehen. Sie erklärt, dass rassistische Erzählungen tief in der deutschen Geschichte verwurzelt sind und durch das Erstarken autoritärer Kräfte wie der AfD im Bundestag eine neue Dimension erfahren. Gilda Sahebi betont, dass solche Narrative nicht spontan entstehen, sondern durch die gesellschaftliche Normalisierung an Einfluss gewinnen. Sie zieht Parallelen zur Rhetorik von Donald Trump, die rassistische Haltungen in den USA enttabuisiert hat.
Das Gespräch behandelt auch soziale und politische Themen wie die wachsende Ungleichheit in Bereichen wie Wohnen, Bildung und Pflege. Gilda Sahebi spricht über die soziale Unsicherheit, die viele Menschen zu radikaleren politischen Ansichten treibt, und hebt hervor, dass diese Unzufriedenheit häufig in rassistische Narrative gepackt wird – besonders in Deutschland, wo solche Erzählungen historisch stark verwurzelt sind. Jo Frank und Gilda Sahebi setzen sich zudem kritisch mit dem Asylrecht auseinander und erörtern, wie der Sozialstaat in Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung und Unsicherheit seine Rolle wahrnehmen kann. Sie thematisieren sie die Erosion der Zivilgesellschaft und die wachsenden Schwierigkeiten, mit denen politische und soziale Bewegungen heute konfrontiert sind. Beide betonen die Wichtigkeit von Solidarität und kollektivem Widerstand gegen autoritäre Kräfte, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene, um die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden und die erforderlichen Veränderungen zu schaffen.
Der in Österreich lebende Schriftsteller und Publizist Marko Dinić beschäftigt sich mit der Frage, wie wir unsere plurale Gesellschaft neu erzählen können, um rechten Hasserzählungen entgegenzuwirken. Seine Analysen kurz vor der Wahl bestätigen auch die mittlerweile feststehenden Wahlergebnisse: Menschen fühlen sich nicht gesehen und wenden sich rechten Parteien zu. Durch gezielte Desinformation hat es die AfD geschafft, den Wähler*innen die Lüge einzutrichtern, dass Erinnerung mit Schuld verbunden sein müsse. Das führt dazu, dass Menschen sich von einer pluralen Erinnerungskultur abwenden. Nun ist es die Aufgabe von Initiativen, Konzepte zu entwickeln, die vermitteln, was Erinnerungskultur und emanzipatorische Erinnerungsarbeit bedeuten – und wie persönliche in gesellschaftlich-kollektive Erinnerung transformiert werden kann.
Ein ähnlicher Trend zeigt sich in Österreich, wo die Österreichische Volkspartei (ÖVP) den öffentlichen Diskurs radikalisiert. Dinić weist außerdem darauf hin, dass die Rolle der Pandemie in Bezug auf die Polarisierung und ihre Auswirkungen auf die Erinnerungsarbeit in beiden Ländern bislang unzureichend aufgearbeitet wurde. Er plädiert für die Schaffung lokaler Begegnungsräume, die es ermöglichen, einander zuzuhören und die reale, radikale gesellschaftliche Vielfalt zu stärken.
Disclaimer: Das Gespräch wurde vor der Bundestagswahl am 19.2.2025 aufgenommen.
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Credits
Moderator: Jo Frank; Redaktion: Hannah Blumas, Angela Mani, Lea Otremba; Film Glitch by Snowflake © 2017 Licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial (3.0) license; Illustration: Rosa Viktoria Ahlers; Projektleitung: Jo Frank, Johanna Korneli, Max Czollek | © 2025 DialoguePerspectives e.V. | http://www.cppdnetwork.com